Digitale Rebellion: Mit TikTok und Tinder Widerstand organisieren

Das Internet ermöglicht es Menschen, Gedanken auszutauschen, sich zu vernetzen und organisieren. Das ist eine Gefahr für Regime. Sie nutzen das Netz, um Kontrolle auszuüben, Propaganda zu verbreiten und Gegner:innen auszuschalten. Aktivist:innen fanden immer wieder digitale Schlupflöcher, Kontrolle zu umgehen. Von Dating-Apps als geheime Kommunikationskanäle bis hin zu Videospielen als Rechtfertigung für Demonstrationen.

Hongkong: Tinder und Pokémon Go als Protestwerkzeuge

Während der Massenproteste der Demokratiebewegung 2019 in Hongkong griffen Aktivisten zu unkonventionellen Methoden, um Überwachung und Informationskontrolle zu umgehen. Die Dating-App Tinder wurde zur Plattform für die Verbreitung von Protest-Informationen, während in öffentlichen Räumen Menschen Nachrichten über Apple AirDrop teilten.1Hong Kong Protesters Tinder and Apple Airdrop to organize (Business Insider, 2019) Verbot die Polizei einen Protestmarsch, behaupteten Menschen Pokémon Go zu spielen, um eine direkte Kontrolle zu vermeiden.2Über Dating- und Gamingapps zum Protestieren verabreden (Deutschlandfund, 2019)

Kenia: TikTok als Megaphon der Gen Z

In Kenia nutzte die Gen Z 2024 TikTok, um gegen ein umstrittenes Gesetz der Regierung zu protestieren. Livestreams über soziale Medien, insbesondere TikTok, schafften Sichtbarkeit und vernetzten die Bewegung. Mit über 10 Millionen TikTok-Nutzern unter den 55 Millionen Einwohnern Kenias wurde die Plattform zur digitalen Bühne für den Protest. Die Hashtags #RejectFinanceBill2024 und #OccupyParliament dominierten wochenlang die kenianischen Trends und schufen ein digitales Echosystem des Widerstands. Die Protestierenden teilten Tipps, Solidaritätsbekundungen und Updates. Die Verbreitung von Inhalten auf TikTok erwies sich als besonders effektiv, um junge Menschen zu mobilisieren, zu vernetzen und die Aufmerksamkeit auf die Anliegen der Protestierenden zu lenken.

Ukraine: Airbnb als Spendenkanal

Zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 zeigte sich die Solidarität auch digital in unerwarteten Formen. In nur zwei Tagen wurden über 61.000 Übernachtungen im Wert von 1,7 Millionen Euro auf Airbnb gebucht – als direkte finanzielle Unterstützung für die Ukrainer, ohne dass die Buchenden tatsächlich eincheckten. Die Plattform unterstützte diese Aktion, indem sie auf Gebühren für Buchungen in der Ukraine verzichtete. Diese kreative Nutzung einer Reiseplattform als Spendenkanal verdeutlicht, wie digitale Infrastrukturen in Krisenzeiten umfunktioniert werden können.3Tausende spenden über Airbnb an ukrainische Gastgeber (Die Zeit, 2022)

Allerdings zeigten sich auch Schattenseiten: Betrüger missbrauchten die Identität von Hilfsorganisationen wie UNICEF und Einzelpersonen, um Spendengelder abzuzweigen. Ukrainer:innen wiederum nutzen eine russische Dating-App, um mit gefälschten Profilseiten Russen in eine Falle zu locken. Über eine Ticketseite zog die Gruppe Monetary Army bis zu mehreren tausend Euro aus der Tausche seiner Opfer, die für die Rüstung der ukrainischen Armee verwendet wird.4How Ukrainians are using fake dating profiles to scam gullible Russians out of thousands of pounds to help pay for war (MailOnline, 2024)

Russland: Google Maps gegen die Informationsblockade

Mit zunehmender Zensur in Russland wurden alternative Plattformen zu wichtigen Kommunikationskanälen. Tinder wurde genutzt, um Botschaften über den Krieg zu verbreiten. Nutzer änderten ihre Standorteinstellungen, um mit Menschen in Russland in Kontakt zu treten und Informationen auszutauschen, die sonst der Zensur zum Opfer gefallen wären. Sogar Rezensionen auf Google Maps wurden zu Informationsträgern über den Krieg, indem Nutzer Kommentare zu Restaurants oder Geschäften in russischen Städten nutzten, um Nachrichten zu verbreiten.5Gegen russische Zensur: Google-Maps-Bewertungen sollen Bürger aufklären (t3n, 2022) Zu Beginn des Krieges nutzen viele Russ:innen VPN-Klienten, um die Geosperre zu umgehen. Die Anzahl der Downloads in den App-Stores stieg steil an. Unter scharfer Kritik von Bürgerrechtler:innen entfernte Apple im Juli 2024 zahlreiche VPN-Apps aus dem russischen App-Store.6VPN-Nutzung: Deutliche Zunahme in Russland im Jahr 2022 (Heise, 2023) und VPN-Apps in Russland entfernt: Bürgerrechtler kritisieren Apple scharf (Heise, 2024)

Iran: Twitter als Fenster zur Welt

Während der Proteste 2009 im Iran spielte Twitter eine zentrale Rolle als digitales Fenster zur Welt. Die Plattform bot Echtzeitinformationen, die traditionelle Medien nicht liefern konnten oder durften. Der Hashtag #IranElection wurde zum weltweiten Trend und lenkte die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf die Geschehnisse im Land. Die Bedeutung von Twitter in dieser Situation schien so bedeutend, dass die US-Regierung die Plattform sogar bat, ein geplantes Update zu verschieben, um den Informationsfluss nicht zu gefährden. Leider hat die Welt nur zugeschaut: Noch immer leiden die Menschen im Iran und kämpfen für Freiheit und Demokratie.7Iran Protests: Twitter, the Medium of the Movement (Time, 2009)

Ausblick: Ein Rettungsschirm für Demokratiebewegungen

Die kreativen Methoden des digitalen Widerstands sind eindrucksvoll. Doch diese Lösungen sind temporär und anfällig für Gegenmaßnahmen autoritärer Regime. Künstliche Intelligenz ermöglicht schnellere und umfangreichere Überwachung. Ein Blick nach Brasilien zeigt, dass Plattformen auch gegen freie und faire Meinungsäußerung eingesetzt werden können. Dort sperrte das oberste Gericht die Plattform X von Elon Musk, wegen Hass und unkontrollierten Falschmeldungen. Musk unterstützt den rechtsextremen Ex-Präsidenten Bolsonaro, dem eine Verurteilung wegen Putschversuch droht. Nach der Sperrung von X verzeichnete der Kurznachrichtendienst Bluesky eine halbe Million neue Nutzer:innen, während sich Musk mit seinem Satelliteninternet Starlink nicht an die Sperre hält.8Konkurrent Bluesky profitiert von X-Sperrung in Brasilien (Die Zeit, 2024) So viel Medienmacht außerhalb demokratischer Kontrolle ist nicht gut.

Für Demokratiebewegungen weltweit brauchen wir sichere, demokratisch-kontrollierte digitale Strukturen, die Identitäten schützt (wenn nötig) und Regimen eine Kontrolle erschwert. Denn Diktaturen habe vor wenig so viel Angst, wie vor freien Informationen. Vorbild kann das Radio Liberty sein, das aber einen journalistischen Schwerpunkt hat, keinen technischen.

Fußnoten

Ich liebe den Duft von warmen Wäldern, die Ränder der Ozeane und digitalen Kulturen. Hier teile ich meine Gedanken und experimentiere mit Ideen. Begleite mich auf meinem Spaziergang – von Banalem bis Tiefgründigem.